Seit geraumer Zeit beherrscht ein Begriff soziale Medien, Nachrichten, Politik, Wirtschaft und viele Menschen, die sich Gedanken machen, was „Digitalisierung“ für sie bedeutet. Doch was meint dieser weit gefasste Begriff, und welchen wirtschaftlichen und persönlichen Änderungen sehen wir uns gegenüber? Wie können wir die Entwicklung steuern, und wo bleibt der Mensch, der durch die Maschine ersetzt werden könnte? Hört man sich um, dann gewinnt man zunächst den Eindruck, dass es um immer bessere Vernetzung geht, um schnelleren Datenaustausch und um die Optimierung von bestehenden Strukturen durch digitale Lösungen. Aus der Finanz- und Wirtschaftswelt sind Computer kaum noch wegzudenken.
Börsenmärkte sind untereinander vernetzt, Kredite und Zahlungsvorgänge finden im Netz statt, und die Industrie orientiert sich mehr und mehr am digitalen Standard – angefangen von Kundenmails bis hin zu ERP-Systemen, eine computerunterstützte Plattform zur Kontrolle von Mensch und Maschine. Arbeitszeit, Maschinenbelegung, Bauteilplanung über 3D-Konstruktionsprogramme, die Liste der Möglichkeiten wird immer länger. Wo früher Taschenrechner und Kalkulationstabellen nötig waren, übernehmen heute Excel und andere leistungsfähige Computerprogramme die Arbeit. Aber nicht nur in der Wirtschaft wird mehr und mehr auf Computer gesetzt, auch die Gesellschaft verlässt sich auf Smartphones, Tablets und intelligente Uhren.
Vorbei die Zeiten, in denen man sich mit Hilfe eines Terminkalenders organisieren musste – Smartphone und der synchronisierte Kalender von Google oder Apple erinnern automatisch an Termine. Auch die Kommunikation verschiebt sich ins Netz. Briefe und Telefonanrufe werden durch Skype, WhatsApp oder FaceTime verdrängt. Und so entsteht ein Phänomen, dass von führenden Soziologen als „Soziale Kälte“ betitelt wird: der kontinuierliche Verfall persönlicher Kommunikation, die abgelöst wird durch Kommunikation via Bildschirm. Und die Arbeitswelt passt sich diesem Trend an, „Homeoffices“, das Arbeiten vom Heimschreibtisch aus, erfreuen sich steigender Beliebtheit. Joe Kaeser, Konzernchef von Siemens, will im kommenden Geschäftsjahr eine halbe Milliarde Euro einsparen, indem Mitarbeiter nicht mehr zum Unternehmen fahren, sondern von Zuhause aus arbeiten – so fallen auch entstehende Reisekosten weg, denn Fahrten zu internen Treffen sind dank Bildschirmkonferenz überflüssig.
Diese Neuerungen klingen zunächst positiv – man kann zu jeder Zeit mit jedem beliebigen Menschen an jedem Ort kommunizieren. Voraussetzung ist aber, dass dieser Jemand an das Netz angeschlossen ist. Und hier beginnen die Schwierigkeiten, denn immer noch ist es nicht möglich, die gesamte Welt mit Internet oder Telefon zu verbinden. Auch unterscheiden sich die regionalen Netze sowohl in der Leistung als auch im Preis. Deutschland ist Spitzenreiter – es verfügt über eines der teuersten Telefon- und Internetnetze. In punkto Datenübertragung – Stichwort Volumen – steht Deutschland allerdings im internationalen Vergleich eher auf den hinteren Rängen. Der Breitbandausbau wird von der Politik als Wendepunkt dieses Makels gelobt, doch 50 MBit/s klingen nach mehr, als sie sind. Die Industrie bräuchte allein ein Netzwerk mit Übertragungsraten von 1 GB/s; dass entspricht umgerechnet 1024 MB, also das 200- fache des derzeit ausgelobten Volumens. Spitzenreiter ist Südkorea, Deutschland liegt (nach Angaben des Handelsblatts vom 11. April 2017) weit abgeschlagenauf Platz 25. Doch wie schnell ist das eigentlich? Ein Rechenbeispiel: Ein durchschnittlicher Spielfilmhat in SD (Standard Definition) etwa 2 GB Speichervolumen. Mit einer Surfgeschwindigkeit von 21,9 MBit/s (Geschwindigkeit in Hongkong, aktuell Platz drei der Weltrangliste „schnellstes Internet“) kann man dort diesen Film innerhalb von 12 Minuten herunterladen. Im Vergleich dazu würde das in Deutschland (15,3 Mbit/s) 18 Minuten dauern.
Dem Thema der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Digitalisierung hat sich auch der selbst ernannte Futurist Gerd Leonhard gewidmet. In seinem Buch „Technology vs.Humanity – unsere Zukunft zwischen Mensch und Maschine“ beschreibt er den zunehmenden Einsatz von Maschinen in unserem Leben. Die Welt steht laut Leonhard vor einer Entscheidung, die noch von dieser Generation getroffen werden muss, da es sonst zu spät sein könnte. Wir müssen uns entscheiden, welche urmenschlichen Eigenschaften (Leonhard bezeichnet diese als Androrithmen) wir künftig dem Algorithmus einer Maschine überlassen wollen, und wo wir die ethische Linie zwischen Mensch und Maschine ziehen. Gerade menschliche Emotionen wie Kreativität, Einfühlungsvermögen, Werte und Ethik werden im Hinblick auf die Automatisierung und Digitalisierung des Menschen und seiner Umwelt immer wichtiger. Der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten, er bewegt sich exponentiell vorwärts – und damit stoßen Menschen und Industrie an ihre Grenzen. Denn der Mensch ist es gewohnt, in linearen Strukturen zu denken – sei es privat oder im Unternehmen. Leonhard unterscheidet hier die Industrie 4.0 – Deutschlands Wirtschaftsthema Nummer eins, aber auch international teilweise kontrovers diskutiert – die sich in diesem exponentiellen Schema bewegt, der Industrie 2.0, wie sie von den meisten Mitarbeitern wahrgenommen wird (lineare Strukturen), und der Industrie 1.0 einiger Vertreter des Managements (aufgebaut auf Macht und Kontrolle; keine Entwicklung, weder linear noch exponentiell).
Gerade durch die Programmierung von KIs (künstliche Intelligenz) soll der Ausbau auf den Standard Industrie 4.0 vorangebracht werden.
Und hier beginnen die aktuellen Probleme. Das exponentielle Wachstum neuer Technologien und der damit verbundenen Möglichkeiten sind vom Menschen nicht mehr zu verarbeiten – denn wir denken meistens eher linear. Eine Explosion an technischen Möglichkeiten, wie sie weltweit stattfindet, ist dazu geeignet, uns zu überfordern. Schon jetzt fühlen sich vieleMenschen vom Fortschritt abgehängt, oder sind nicht auf einen verantwortungsbewussten Umgang geschult.
Wir lassen uns von immer mehr und neuen Funktionen dazu verleiten, unsere persönliche Freiheit aufzugeben. Längst lassen wir uns von Amazon diktieren, was wir einkaufen, passend zu unseren bisherigen Einkäufen und den daraus berechneten Empfehlungen. Arbeitsplätze werden durch Maschinen ersetzt – allein 50 Prozent aller Arbeitsplätze können (und werden) in den nächsten 10 bis 15 Jahren durch Maschinen ersetzt werden.
Allein in der deutschen Automobilindustrie werden von aktuell zwei Millionen Arbeitsplätzen nur noch 200.000 Jobs übrig bleiben.
Und wir? Wir geben Entscheidungen mit Freude ab, wollen selbstfahrende Autos, ferngesteuerte Wohnungen, automatisch gefüllte Kühlschränke – oder sind das nicht wir, die das wollen, sondern die Technik, die unser Leben bestimmen will? Sind wir noch in der Lage, diese Entwicklung bewusst zu steuern? Die beste erste Antwort auf diese Frage wäre wohl: Keine Panik! Blinder Aktionismus ist ebenso unangebracht wie panische Verleugnung des Fortschritts. Was dringend erforderlich ist, ist ein Mithalten und gesundes Mitdenken, um der Technisierung nicht zu erliegen, sondern sie zu meistern und zu beherrschen.
Reden wir also über die Möglichkeiten, aber auch über die Versäumnisse der Politik und Gesellschaft. In diesem Jahr trafen sich führende Köpfe der Industrie 4.0 – darunter Hannes Ametsreiter (Vodafone), Janina Kugel (Siemens), Johann Jungwirth (VW-Digital) und Till Reuther (KUKA Roboter). Auf dem GIGA-Gipfel des Handelsblattes wurden die Digitalisierung und ihre Umsetzung thematisiert. Alle Anwesenden waren sich einig, dass ein eigener Weg gefunden werden müsse, und man nicht bestehende Vorgehensweisen, wie etwa aus Silicon Valley, der amerikanischen Ideenschmiede für wegweisende Technologien, kopieren könne. Wie dieser Weg konkret aussehen soll, steht noch nicht fest. Es existiert ein Thesenpapier, an dem kontinuierlich weiter gearbeitet werden soll.
Solchen Aufwand kann aber nur der treiben, der die nötigen Voraussetzungen besitzt: Geld – Zeit – Wissen. An allen drei Komponenten scheitern viele mittelständische Unternehmen, private Haushalte mit geringerem Einkommen oder aber der Bürger an sich. Denn woher soll das nötige Fachwissen kommen, wenn nicht durch eigene Recherche? In der Pflicht sind Bildung und Erziehung – doch die stecken teilweise noch in der digitalen Steinzeit fest. Zu viele setzen noch auf Lehrformate in Form von Tafel und Kreide, einige Lehrer sind nicht einmal in der Lage, einen Videorecorder souverän zu bedienen. Der Pfaffenhofener Kurier berichtete am 13. November 2017 über das gleiche Problem. Die Vereinigung der bayrischen Wirtschaft (vbw) hat eine Studie in Auftrag gegeben, und die Ergebnisse sind ernüchternd. Jede vierte Schule besitzt gar kein Medienkonzept, die erwähnte Kombination Tafel mit Kreide ist hier noch die größte technische Innovation. Aber auch jüngere Lehrkräfte, von denen man doch eine gewisse Kompetenz in Sachen Technik erwarten könnte, da sie doch schon mit der Technik groß geworden sind, sind kaum medienkompetenter als ihre älteren Kollegen. Die Realschulen haben in dieser Hinsicht sowohl der Hauptschule, aber auch dem Gymnasium längst den Rang abgelaufen. Medienkompetenz und die Verwendung moderner Medien (wie etwa Notebooks oder sogar interaktiveTische und Tafelkonzepte wie das Whiteboard) finden sich in der Realschule weitaus häufiger als in den anderen beiden Schularten. Ob diese Technik aber auch richtig genutzt wird, ist dem Artikel nicht zu entnehmen. Klar ist, dass es an einer Systematik fehlt, wie das digitale Klassenzimmer aussehen soll, wie die notwendigen Schulungen der Lehrkräfte aussehen sollen und vor allem, wer diese Maßnahmen bezahlt. Das könnte zu Zwei-Klassen-Schulen führen, meint Frank Fischer, der das Gutachten für die vbw erstellt hat. Das Erwerben medialer Kompetenzen ist aber wichtig für den Freistaat, da dieser nicht nur mit Berlin konkurriert, sondern sich auch international messen lassen muss.
Die Klasse besitzt zunehmend mehr digitaleKompetenz als die Lehrkräfte – und das ist ein Problem. Denn das Smartphone ist – laut Apple – selbsterklärend, einfach zu bedienen und eröffnet den Schülern die Wunderwelt des World Wide Web. Anleitungen – auch Tutorials genannt – finden sich hier zur Genüge, sind aber nicht immer zuverlässig oder sogar falsch. Digitale Erziehung findet weder in Schulen noch im Kindergarten statt, stattdessen werden schon Kleinkinder zur Beschäftigung vor einen Tablet- Bildschirm gesetzt und dürfen Biene Maja streamen. Hier versagen nicht nur die Bildungsinstitute wie Schule oder Kindergarten, sondern auch die Eltern. Verantwortungsvollen Umgang zeigt das nämlich nicht, vielmehr begeben wir uns wie Alice in ein digitales Wunderland – nur haben wir niemanden, der uns wieder aus dem Chaos herausholt. Problemkinder wie Cyber-Junkies sind die Folge dieses hemmungslosen Umgangs, live können wir mitverfolgen, dass Dieter Digital ein Schnitzel isst oder mit Freunden feiern geht. Es ist also wieder Zeit für eine Bildungsreform, aber diesmal geht es nicht um ein acht- oder neunjähriges Gymnasium, sondern umden Lehrplan. Statt der Extrastunde Latein, die unbedingt noch rein muss, sollten besser Fächer wie Ökonomie und Technik präferiert werden, damit die Kinder und Jugendlichen lernen, wie manmit Computer und Internet sinn- und verantwortungsvoll umgeht, und statt sich mit der Quadratur des Kreises zu beschäftigen, wäre ein Jahr Finanzmathematik vielleicht sinnvoller. Nur so können wir als Menschen langfristig von der Maschine unabhängig bleiben – statt uns blind auf dieTechnik zu verlassen. Aber auch die Wirtschaft ist gefordert, mit den neuen Medien umzugehen. Große Konzerne wie Siemens leben Industrie 4.0 vor – und der Mittelstand bleibt auf der Strecke. Mitarbeiter sind schon jetzt überfordert, mit Excel oder ERP-Systemen zu arbeiten. Maschinensteuerungen laufen oft noch über die Push- Button-Methode, doch mehr und mehr halten automatisierte Maschinen Einzug in die Fabrikhallen. Doch diese Maschinen und die damit verbundenen Einweisungskurse sind extrem kostspielig, und damit für viele kleinere Unternehmen kaum zu bezahlen. Doch um im internationalen Geschäft mithalten zu können, braucht es diese extrem komplexen Maschinen. Gerade arbeitet die Industrie daran, auch vage Prozesse wie etwa die Abnutzung von Werkzeugen per Computer abbilden zu können. Langfristig geht es um zeitgenaue Lieferungen und Kosteneinsparung, doch zunächst bedeutet jede Neuerung, die Standard werden soll, eines–Verlust.
Das letzte Unternehmerforum des Landkreises vom 12. Oktober 2017, organisiert vom KUS in Kooperation mit dem Wirtschaftsbeirat, gab den Unternehmen Antworten auf die Frage, wie die Digitalisierung die Betriebsabläufe beeinflussen wird. Der exzellente Vortrag des Hauptredners Dr. Brill machte deutlich, dass die traditionelle Vorgehensweise vieler Unternehmen zum Scheitern verurteilt ist. Unter dem Aspekt, einen Standard zu finden und auch Politik, Schulen, Unternehmer und unsere Bürger konkret zu unterstützen, haben sich Vertreter des Wirtschaftsbeirats, der Landkreiswirtschaftsförderung KUS, der städtischen Wirtschaftsförderung WSP sowie der Gewerbevereinigung ProWirtschaft Anfang November getroffen. Ziel war es zunächst, das Thema Digitalisierung einheitlich zu definieren.
Im Ergebnis verständigte man sich auf ein neues Forum, das den Titel „Think Tank Digitalisierung“ tragen wird und innerhalb dessen Fragen rund um dieses Thema behandelt werden. Der erste öffentliche Think Tank ist für den 21. Januar 2018 vorgesehen. In diesem Zusammenhang wäre es wünschenswert, dass beispielsweise Schulen von sich aus auf Unternehmen zukommen würden und aktiv nach deren Umsetzungsverständnis zur Digitalisierung fragen würden. Bislang sind solche Schritte ausgeblieben, und das in Zeiten, wo die Unternehmen mehr und mehr auf gut „digitalisierte“ Mitarbeiter angewiesen sind. Hier besteht eine offene Einladung, sich aus der Komfortzone zu begeben und Unternehmen aktiv anzusprechen.